Der Wasserkocher zischte und dampfte. Gisela, die Tresenbedienung, sicherte ihren Haarzopf, den sie über die Schulter warf, und wartete auf die automatische Geräte-Abschaltung. Dann öffnete die 54-Jährige den Klappdeckel und begann mit der nächtlichen Drei-Uhr-Feierabendroutine. Zuerst machte sie sich an die Desinfektion der Zapfanlage, was gewöhnlich nicht länger als vier Minuten dauerte. Dazu hob sie den Wasserkocher derart an, dass die Zapfhähne der drei angeschlossenen Biersorten tief hineinreichten ins noch siedende Wasser. Eine Prozedur, die jedem Keim den Garaus machte.
Mit einem Mal klopfte es an der Eingangstür. Gisela hob den Kopf. Es war ein irgendwie lebloses, weder zaghaftes noch forderndes Klopfen. Merkwürdig, dass sich an den Fenstern links wie rechts der Tür kein Schatten abzeichnete. Der um Einlass begehrende Besucher musste also über die Straße gekommen sein. Dies war ungewöhnlich, denn die spät nachts gelegentlich Einlass Begehrenden kamen allesamt von links, also vom Hauptbahnhof. Allerdings waren hier zu so später Stunde nur wenige Nachtschwärmer unterwegs. Huren zumeist, manchmal Mädchen.
Die hofften auf ein Schwätzchen, ein wenig Vertrautheit - suchten eine Art Tankstelle für die Seele, um durchzuhalten in ihren Scheißjobs. Dazu nahmen sie einen Drink, den einzigen, den Gisela nach der Reinigung des Tresens bereit war auszuschenken: Cuba Libre. Übrigens die Spezialität des Hauses, wie es auf einer abgenutzten, mit roter Farbe beschriebenen Schiefertafel geschrieben stand. Immerhin handelte es sich hier um eine kubanische Bar, eben um die Havanna-Bar, wovon auch die zahlreichen Fotos und Bilder an den Wänden zeugten.
Wieder erklang dieses unrhythmische Klopfen. Misstrauisch, mit kurzen, zögernden Schritten löste sich Gisela vom Tresen. Ihre Wangen unter den blondierten Haaren verloren an Farbe bei dem Gedanken an die nächtlichen Überfälle, die das Viertel zuletzt heimgesucht hatten. Oder sollte vielleicht ...? Wie aufgescheucht aus der Umfriedung eines nicht mehr jungen Lebens begann ihr Herz zu rasen. Hinter dem üppigen, noch immer festen Busen spürte sie ein schmerzhaftes Pochen. Sollte tatsächlich Fernando? Oh Gott! Fernando war kein gewöhnlicher Mann. Gisela nannte ihn den Todesengel ihrer besten Jahre. Unerwartet war er damals in ihr Leben getreten, wie aus heiterem Himmel, die inneren und äußeren Seiten ihrer Fraulichkeit im Sturm erobernd. Viele Jahre hatte das athletische Kraftpaket dieses Terrain besetzt gehalten und alles, was Giselas Leben bis dahin ausgemacht hatte, wie ein Bulldozer zerstört. Seit Tagen vergiftete die Besuchsankündigung des schönen Fernandos ihr eher karges, aber durchaus zufriedenes Leben.
Das wiederholte Klopfen ließ die Eingangstür erzittern. Gisela zupfte ihre grüne, einfache Bluse zurecht, so dass der Stoff über dem Speck der Wechseljahre weniger spannte. Ihre Augen visierten die Tür an, über der sie für eine Zehntelsekunde Halt fanden an einem Bild, das den morbiden Charme einer vom Kolonialstil geprägten Altstadt zeigte: Fernandos Heimat.
Gisela öffnete die Tür nur einen Spaltbreit. Es war nicht Fernando, es war Eve. Das dumme Kind saß zusammengesunken auf der Stufe zur Tür. Es wirkte apathisch, leblos fast. Wieder einmal schien es, als wollte ihre verängstigte Seele dem ausgemergelten Körper entfliehen. Gisela fasste die Gefallene bei den Achseln, zog sie herein in die Gaststube, bettete sie auf eine alte Hundedecke.
Während sie daran dachte, den Notarzt zu rufen, flehte Eve um einen Drink. „Bitte, bitte, nur einen Cuba Libre.“
„Was ist passiert?“, fragte Gisela, „zu viel Heroin?“
„Nein!“
Gisela ahnte etwas: „Zu viel von - Volker!“
„Ja“, bestätigte das verzweifelte Mädchen, „er hat mir ins Genick geschlagen.“ Dann: „Neuerdings verlangt er mehr Geld denn je - für sich allein. Aber ich schaffe es einfach nicht.“ Eve begann hemmungslos zu schluchzen. Gisela wandte sich ab, um den Drink zu bereiten.
Vom Tresen aus beobachtete sie, wie Eve sich mühsam aufrichtete, der Hundedecke zu entfliehen. Kein Wunder, das Textil, dick wie ein Schafsfell, war filzig und stank zum Gotterbarmen. Dass die Kleine daran in ihrem Zustand noch Anstoß nahm … Auch Gisela hatte einst auf dieser Decke gelegen, als der kuschelige Bodenbelag gerade angeschafft worden war, vor über 30 Jahren, mit nacktem Hintern und Fernando über sich. Eine Erinnerung, die heute widersprüchliche Empfindungen auslöste.
Damals war Fernando, der mit vollständigem Namen Fernando Meier hieß, nach Hamburg gekommen. Untergebracht war er ganz in der Nähe, wo er sich mit einem zweiten Kuba-Flüchtling ein bescheidenes Zimmer hatte teilen müssen. Damals war Gisela gerade eingestellt worden als Tresenbedienung in der Havanna-Bar, stundenweise. Eine forsche, begabte Studentin mit dem Ziel, Archäologin zu werden. Glücklich war sie gewesen mit ihrem langjährigen Freund, ein lieber, fleißiger Mensch. Umso schrecklicher für ihn, dass er völlig unerwartet aus der gemeinsamen Wohnung vertrieben worden war, von Fernando, mit einer durchgeknallten Gisela an seiner Seite.
Seitdem waren viele Jahre vergangen und Gisela längst als feste Tresenbedienung angestellt. Erleichtert beobachtete sie, dass Eve die wenigen Meter zum Tisch aus eigener Kraft schaffte, schwankend zwar, aber aufrecht. Dankbar nippte die geschundene Seele einer erwachsenen Frau in einem Mädchenkörper an ihrem Glas. Dann seufzte sie, irgendwie erleichtert. Etwas Schweres fiel von ihr ab. Und mit jedem Schluck gewann ihre Stimme an Kraft.
Schon gefasster plapperte sie: „Was wohl die Reichen so trinken?“ Ihre Stimme hellte sich auf: „Vorhin bin ich zu einem Münchner Geschäftsmann in einen großen dunklen Wagen gestiegen. Er hat mich für seinen nächsten Besuch in Hamburg zum Essen eingeladen - in ein teures Restaurant.“ Sie sagte es nicht ohne Stolz.
Gisela grinste. „Ein Münchner? Woher weißt du das?“
„Sein Nummernschild beginnt mit einem M.“
„Ach so!“ Gisela winkte ab. „Das bedeutet gar nichts. Könnte auch ein Leihwagen sein. Ein Perverser vielleicht, der es unerkannt auf die Schnelle besorgt haben will.“
„Nein“, widersprach Eve, „pervers ist der nicht gewesen!“
„Das ganze Leben ist pervers, jedenfalls für unsereinen“, murmelte Gisela.
Eve taute allmählich auf und freute sich über ein nachgefülltes Glas. Währenddessen fuhr Gisela fort mit den Feierabendverrichtungen.
Und während sie darüber nachsann, wie sie Fernando bei dessen Rückkehr begegnen sollte, hörte sie Eve fragen: „Soll ich fortgehen, wenn mein Volker brutaler wird?“
Gisela, auf der Treppe zum Keller, rief herauf: „Ja, Kind, mach dich weg von d e i n e m Volker. Noch besser wäre es allerdings, du gingest gleich auf Entzug.“
„Ach wo, was soll ich denn auf Entzug? Ich bin jung und habe das Leben vor mir.“ Sie lachte spitz. Dann ergänzte sie: „Irgendwann wird der Tag kommen, an dem mir nichts anderes übrig bleibt. Anschließend werde ich dich besuchen und mit dir ein Gläschen trinken auf ein neues, schöneres Leben.“
Gisela kehrte aus dem Keller zurück.
Nachdenklich sagte sie: „Wenn man etwas wirklich will oder nicht will, dann darf man keine halben Sachen machen.“
Eve zuckte mit den Achseln, kicherte: „Was soll das heißen? Willst du, dass ich mich totsaufe, heute, hier mit deinem Cuba Libre?“ Sie lachte glucksend.
Gisela suche wieder den Tresen auf. Entgegen ihrer Gewohnheit schenkte sie auch sich selbst einen Drink ein.
Sie nahm die Flasche mit an den Tisch, schenke auch Eve das Glas voll.
„Geht aufs Haus.“ Dann prostete sie der nächtlichen Besucherin zu und erklärte: „Du hast mich gerade sehr bestärkt in einem wichtigen Entschluss.“
Eve hob den Kopf, kniff die Augen zusammen.
„Ja“, erklärte Gisela, „auch ich bin mal von einem Menschen abhängig gewesen. Und glaube mir, freiwillig werde ich diesen Kerl ganz bestimmt nicht wiedersehen.“
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Inmitten ihres traumloses Schlafes schrillte am nächsten Tag das Telefon, ununterbrochen. Gisela fuhr hoch. Hatte sie den Wecker überhört? War das schon Gonzo, ihr Chef? Zu ihrer Tätigkeit in der Havanna-Bar gehörte es seit geraumer Zeit, dem Dicken das Essen zu bereiten. Gonzo wünschte täglich um 17.00 Uhr zu speisen. Gisela warf einen Blick auf den Wecker, der auf ihrem Nachttisch stand. Der zeigte aber erst 14.00 Uhr an. Sie erschrak. Fernando?! Blitzartig war sie hellwach. Doch alles in ihr weigerte sich, den Anruf anzunehmen. Da, einem kurzen Schweigen des Telefons folgte ein erneutes Schrillen. Zögernd nahm sie den Hörer auf.
„Wurde aber auch Zeit“, fuhr die schneidende Stimme Gonzos durchs Telefon.
Gisela setzte sich aufrecht.
„Weißt du, wie spät es ist?“, versuchte sie sich an einer Beschwerde.
„Selbstverständlich“, schnarrte der Chef. Dann fügte er hinzu, dass er Gäste erwarte und dass Gisela heute früher als sonst zur Arbeit erscheinen müsse. Als die nicht gleich antwortete, fügte er mit murrendem Unterton hinzu: „Ich bitte dich darum!“ Da wusste Gisela, dass es wichtig war für Gonzo.
Wenn für den kränkelnden Barbesitzer etwas von Bedeutung war, dann seine Freunde. Exilkubaner zumeist, von denen viele in Amerika lebten. Früher war Gonzo öfter mal nach Miami gereist, auch wegen der Geschäfte. Noch länger war es her, dass die Freunde nach Hamburg gekommen waren. Zu denen übrigens zu Anfang auch der junge Fernando gehört hatte, als Vertreter seines kranken Vaters. Der junge Heißsporn, der alsbald für einige Jahre in Hamburg heimisch werden sollte, hatte die Treffen gelegentlich geschwänzt, um mit Gisela auszugehen. Abfällig hatte er dann gesagt: „Lass die alten Männer von alten Zeiten träumen, ich denke lieber an die Zukunft, die flüstert mir zu, dass Fidel Castro in 10 Jahren ohnehin nach Moskau geflüchtet sein wird.“ Und mit düsterem Unterton hatte er manches Mal hinzugefügt: „Dafür werden wir schon sorgen.“ Fernandos Deutsch war selbst für einen Deutschstämmigen außergewöhnlich akzentfrei. Im Gegensatz zum Kauderwelsch Gonzos, der sich in Hamburg lange Zeit nur mühsam hatte verständigen können.
Gisela sprang unter die Dusche, schlüpfte in ein dunkles, weiches, fließendes Kleid, legte das Make-up einen Tick sorgfältiger auf als sonst. Zügig, genau wissend, was sie wollte, suchte sie in der Langen Reihe, einer schmalen, quirlig bunten Einkaufsstraße, verschiedene Läden auf. Gonzo wünschte ein Steak zu essen, am liebsten mit grünen Bohnen. Der Hungrige lag wie so oft in den letzten Jahren im Bett. Das Herz! Immerhin: Er hatte die Siebzig überschritten. Wie alt er genau war, wusste Gisela nicht. Das wollte sie auch gar nicht wissen. Ihr gefiel es so, wie es war. Denn in dem Maße, wie seine Altersbeschwerden aufkamen, verlor sich die Strenge.
Gonzo saß aufrecht im Bett und aß mit ungewöhnlichem Appetit. Er wirkte entspannter als sonst, seinem Atem fehlte das angestrengte Pfeifen.
„Wir bekommen morgen Besuch“, sagte er schmatzend, beiläufig.
Gisela nahm an seinem Bettende Platz, dem Kranken etwas Gesellschaft zu leisten, als es plötzlich schien, als würde sein Atem aussetzen. Sie erschrak. Doch Gonzo war quicklebendig, er drehte die Gabel, auf der ein Stück Fleisch steckte, um ihre Achse.
Nach einem tiefen, ausgleichenden Atemzug sagte er: „Auch Fernando wird morgen einfliegen.“
Giselas Augen weiteten sich, ihr Herz begann wild zu pochen. Gonzo steckte die Gabel in den Mund und schmatzte genussvoll. Dabei beobachtete er seine Tresenbedienung aus den Augenwinkeln.
„Freust du dich auf Fernando?“
Die Frage hatte etwas Lauerndes. Gisela wusste, dass ihr Chef eifersüchtig werden konnte, zumindest seit sie vor Jahren begonnen hatte, gelegentlich das Bett mit ihm zu teilen. Sie beantwortete die Frage nicht.
Stattdessen redete Gonzo: „Er hat sich verändert, dein Fernando. Aber nicht zu seinem Besten. Also erschrick nicht, wenn er vor dir steht.“
Wenn es etwas gab, worauf Gisela weiß Gott würde verzichten können, dann aufs Erschrecken, erst recht auf die Begegnung mit dem Todesengel.
Seiner Gewohnheit bei besonderen Ereignissen folgend, überließ Gonzo nichts dem Zufall. Ganz oben auf der Liste stand das Entstauben und Geraderücken der Bilder an den Wänden der Gaststube. Zuerst kamen die eingerahmten Fotos von prachtvollen Häusern aus der kubanischen Gründerzeit dran: Gonzos Lieblingswandschmuck. Nicht nur einmal hatte Gisela den derben Menschen weinend erlebt beim Betrachten der prunkvollen Gebäude hinter den entspiegelten Gläsern. Sie wischte über die Scheiben, dann über die Rahmen. Nach und nach brachte die Prozedur unter den klebrigen Ablagerungen aus fettigem Zigarrenrauch eine von Licht überflutete, atemberaubend schöne karibische Lebenswelt hervor. Als sie die in Öl gemalten Festungen El Morro und La Cabana reinigte, wurde auch sie zum hundertsten Mal von Fernweh gepackt. Hinzu kam, dass die mächtigen Mauern einen sonderbaren Reiz auf sie ausübten. Ja, hinter solchen Mauern wäre sie unantastbar und ganz sicher auf der ihr angestammten Lebensbahn geblieben. Doch die dicken Wälle waren fern. So wie Kuba, Havanna, weiße Strände, berauschende Nächte. Nie war sie dort gewesen, obwohl der größte Teil ihres Lebens mit der Zuckerrohrinsel verknüpft war. Und zum wiederholten Mal beschäftigte sie die Frage, wie wohl der Cuba Libre auf Kuba schmeckte? Gisela seufzte. Fernando wusste es und Gonzo wusste es auch. Überhaupt wussten es so viele.
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Nach der folgenden Schicht schloss sie die Bar überpünktlich. Keine Besucherin,