Außerhalb des Scheinwerferkegels glich der dunkle Eichentisch den Umrissen eines ver-schwommenen Felsens. Darauf, mit leicht gespreizten Beinen, stand Ute Mischke. Ihr Kopf steckte in einer Schlinge, die zu einem Strick gehörte, der von einem Deckenbalken herunter hing. Die Lebensmüde klagte nicht. Da näherte sich aus dem Hintergrund Karl-Heinz Mohrmann, ihr Bühnenpartner. Der Laienschauspieler machte zwei, drei Schritte,
Fortsetzung hier:
hechtete auf den Tisch, tauchte ein in das grelle Licht der Scheinwerfer und umklammerte die strammen Beine der zu allem Entschlossenen. Dabei folgte Mohrmann der Regieanweisung akribisch. Ganz wie es seinem bemühten Wesen entsprach, rief er so lebensecht wie möglich: „Ute, was tust du?“ Wie zufällig verlor sich der Kopf des Lebensretters dabei unter dem Faltenwurf ihres Kleides. „Halte ein, ich befreie dich!“, sollte er seiner Bühnenpartnerin jetzt zurufen. Doch nicht mehr als ein Haspeln und Murmeln wollte seinem Kiefer entspringen.
Eine geschlagene Minute lang kämpfte Karl-Heinz Mohrmann redlich um diesen Part. Bis ins Parkett hinein waren sein stoßend pfeifender Atem und so allerlei andere nicht zuzuordnende Laute zu hören. Die Mitglieder des Ensembles schüttelten missbilligend den Kopf über diesen Patzer, der ganz und gar nicht zur Zuverlässigkeit Mohrmanns passen wollte. Zumindest, so nörgelten die Anwesenden, hätte er dem Drehbuch folgen müssen: auf den Schreibtisch springen und das Taschenmesser zücken, um die Leidende abzuschneiden vom schicksalhaften Strang. Da griff der Regisseur ein. „Das muss geübt werden“, forderte er aus der ersten Reihe in einem zupackenden Tonfall. Karl-Heinz Mohrmann zog den Kopf heraus aus dem verstörenden Erlebnis hinter dem Faltenwurf, tauchte auf in die soziale Wirklichkeit des Laienspiels. Beflissen, wieder im Vollbesitz seines Sprachvermögens, versprach er eine außerplanmäßige Proben-Schicht. Ute Mischke, noch immer den wuchtigen Schreibtisch dominieren, lächelte auf den Regisseur hinab. „Wenn es denn sein muss …“, schnalzte sie und kehrte zurück in die Lebenswirklichkeit, im Schlepptau einen Karl-Heinz Mohrmann, der sein Haupt in Demut gesenkt hielt.
Währenddessen saß Doris Mohrmann, Karl-Heinz’ Lebenspartnerin aus dem wirklichen Leben, in der dritten Reihe des Parketts und verspürte kratzendes Unbehagen. Was um Himmels willen verbarg sich unter dem Kleid? Was mochte ihren Karl-Heinz darunter so aus der Fassung gebracht haben? Ausgerechnet ihn, die Zuverlässigkeit schlechthin, die er hier im Theater gewöhnlich nicht weniger verkörperte als zuhause. Ob beim Zubereiten des Frühstücks oder beim Reinemachen, beim Abwasch oder beim so geliebten Puddingkochen, ja selbst bei der Gartenarbeit, stets hatte ihr Mann den rundum funktionierenden Tausendsassa gegeben, den softigen Beziehungsroboter mit glatt rasiertem Antlitz, durch und durch perfekt. Und dann passierte ihm dieses Missgeschick? Doris Mohrmann mochte es nicht glauben. Oder wurde der Hilfreiche allmählich alt? Er wurde doch wohl nicht vom Oberprokuristen Herrn Alzheimer heimgesucht?
Am liebsten hätte sie ihren Karl Heinz auf der Stelle ins Verhör genommen. Doch der Zeitpunkt war ungünstig, denn neben Doris Mohrmann in der dritten Reihe saß der stets fein gewandete Herman Liebich, den alle „Schwarzer Kater“ riefen, nicht weil er etwa schwarz wäre oder schnurren würde, sondern weil er stets ein Miniaturfläschchen des altbekannten Johannisbeerlikörs „Schwarzer Kater“ mit sich führte. Manchmal auch zwei oder drei Fläschchen. Dann pflegte er eines abzugeben, mit Vorliebe an Doris Mohrmann, die im Übrigen noch nie nein gesagt hatte. Stattdessen sagte sie lieber „prost“ - und manchmal sogar noch andere Worte, die aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Hermann Liebich fasste in die rechte Tasche seines Jacketts, zog zwei Fläschchen „Schwarzer Kater“ heraus und stieß mit Doris an: „Auf uns!“ „Ja, prost“, antwortete Doris Mohrmann ungewohnt wortkarg. Herman Liebichs Stimme füllte die Stille: „Auf dich und auf mich und auf uns beide!“ Letzteres sagte er mit einem Augenzwinkern.
Da stieg der Regisseur auf die Bühne, beschrieb mit seinem Armen einen theatralischen Halbkreis und erklärte mit klarer Stimme, dass noch etwas Zeit sei bis zum Ende der Probe und dass er die Suizidszene noch einmal sehen wolle. Blitzschnell zog Herman Liebich abermals zwei „Schwarzer Kater“ hervor, diesmal aus der anderen Tasche seines karierten Jacketts. „Komm, wenn die Deppen noch einmal üben müssen, können wir ja rasch in die Umkleide ...“ „Ich weiß nicht recht“, antwortete Doris Mohrmann, „ich würde ja gern mit dir kommen, aber ich möchte lieber hier bleiben … Weißt du, der Karl-Heinz kommt mir heute so durcheinander vor. Das beunruhigt mich. Kannst du das verstehen?“ Es ist anzunehmen, dass Hermann Liebich ihre Bedenken nicht verstehen konnte oder wollte. Gleichwohl zeigte er gestisches Verständnis. Wenn auch mit dezentem Zähneknirschen. Um den „Schwarzer Kater“ nicht ganz erfolglos rausgerückt zu haben, ließ er in der Verschwiegenheit des Parketts seine Hände über Doris’ Schenkel gleiten.
Auf der Bühne hatte Ute Mischke die Schlinge zum zweiten Mal an diesem Abend um ihren Hals gelegt. Zwei Meter entfernt wartete der Regisseur auf Karl-Heinz Mohrmanns Einsatz. Der nahm gehörig Fahrt auf und sprang mit einem Hechtsprung auf den Tisch. Der Regisseur ballte die Fäuste. „Bravo!“, rief er. Und als Mohrmann die Beine der Lebensmüden umklammerte und „Ute, was tust du?“ rief, da lobte der Regisseur: „Jawohl! Es geht doch. Weiter so!“ Schon verschluckte das üppige Kleid das Haupt des Lebensretters. Die Anspannung ließ die Anwesenden das Atmen vergessen. Wo blieb das geforderte „Halte ein, ich befreie dich!“? Groß war die Enttäuschung! Denn nichts weiter als ein speicheliges Murmeln, atemloses Stöhnen und ein geradezu ersterbendes Seufzen zerriss die aufgestaute Stille im Theater. Es war der Regisseur, der zur Bühne hinauf stürmte und Karl-Heinz herauszog aus der stofflichen Einhüllung ins Licht der Scheinwerfer.
Als der Verstörte sich aufrichtete, dabei für einen Moment die volle Leuchtkraft der Scheinwerfer sein Gesicht traf, kam Bewegung in die dritte Reihe. Doris Mohrmann sprang auf, schob die Brust wie auch den Kopf so weit wie möglich über die vorderen Stuhlreihen. Der Beutestarre eines Raubtieres nicht unähnlich, so schien sie Kontakt aufzunehmen mit ihrem Gatten, in dessen Gesicht sie Ungeheuerliches las. Aufgereizt riss sie dabei die fummelige, schwitzige Hand ihres Sitznachbarn und Likör-Spenders zwischen ihren Oberschenkeln hervor. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Dieses blöde, bei aller Verwirrung unübersehbare Grinsen im Gesicht ihres langjährigen Ehepartners da oben auf der Bühne, diese lüsterne Verklemmtheit … Teufel, so hatte sie ihren Karl-Heinz schon einmal erlebt, damals, über viele Monate hin, nachdem sie, Doris, ihn auf dem Hamburger Dom zum ersten Mal geküsst hatte.
Während auf der Bühne die Scheinwerfer erloschen und der Regisseur einen ratlosen Eindruck machte, heftete Doris ihren Blick auf Ute Mischke und das üppige Kleid. Wie im Zeitraffer reifte der Apfel der Erkenntnis. Oder sollte sie ihn besser als Apfel der Sünde begreifen? Eines jedenfalls stand fest: Karl-Heinz’ Versagen hatte seine Ursache hinter diesem Faltenwurf. Ein betäubendes Parfum? Pulsierende Krampfadern? Raffinierte Strapse? Oder: War da überhaupt etwas drunter?
Doris Mohrmann hatte vor Jahren den Beruf einer Chemisch-technischen Assistentin erlernt. Sie wusste genau um die Funktion von Weichmachern. Dass mit der Veränderung eines materiellen Stoffs stets ein Prozess des Aufweichens, der Auflösung molekularer Strukturen einhergeht. Ein Gesetz, von dem sie zu wissen glaubte, dass es auch auf Menschen anwendbar war. Nachhaltige, schmerzhafte Erinnerungen, überbordende Emotionen, Liebe, Herzschmerz, Erschrecken, Geilheit und Angst zuvorderst, sogar eine gelungene freudige Überraschung, all dies ließ sie als glaubwürdige Katalysatoren menschlicher Veränderung gelten.
Misstrauisch, aber mit der gebotenen Nüchternheit sondierte Doris Mohrmann die Gegebenheiten: Das, was sie soeben hatte miterleben müssen, hatte ganz und gar nichts mehr mit ihrem Mann gemein, dem liebenswerten, durch und durch funktional ausgerichteten Karl-Heinz. Die Konsequenz wagte sie kaum in Worte zu fassen: Ja, hier muss ein Weichmacher im Spiel sein. O je, das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass diese treue Seele eines Tages den Abwasch verweigern oder - schlimmer noch! - unangenehme Fragen stellen würde.
Den enttäuschten Schwarzer Kater-Spender im Parkett zurücklassend, eilte sie den Umkleideräumen entgegen. Wuchtig stieß sie die Tür auf. Was würde sie dahinter erwarten? Ihr Kar-Heinz in den Armen seiner Bühnenpartnerin Doris Mischke? Doch diese saß allein in einem Schminksessel und nippte an einem Gläschen Sekt. Um ihren Hals hing noch schlaff die Todes-Schlinge; der dazugehörige Strang schlängelte sich über die Knie hinunter aufs Linoleum. Doris Mohrmanns Interesse fasste nach dem Kleid, das Ute Mischkes Unterkörper mitsamt dem Sessel zu bebrüten schien. Ihr Puls geriet ins Stolpern. Sollte etwa Karl-Heinz unter dem Saum stecken? Ihr Karl-Heinz? Blitzschnell machte ihr Vorstellungsvermögen die verdeckten Maße sichtbar. Sie atmete auf. Ihre schlimme Befürchtung klang ab. So schmächtig, um unter die kurzen Stuhlbeine zu passen, war ihr Mann nun wirklich nicht gebaut. Innerlich beruhigt, gleichmütig im Ton sagte sie: „Hallo, wie geht’s?“ „Wenn man davon absieht, dass dein Mann die gemeinsame Szene auf dem Tisch hat misslingen lassen, geht’s mir gut“, antwortete Ute Mischke. Ihre Augen ruhten für einen Augenblick auf dem halb gefüllten Sektglas. Dann ergänzte sie: „Jetzt geht’s mir wieder sehr gut sogar. Doch was ist mit dir“, drehte sie das Gespräch gegen Doris Mohrmann, „geht’s dir ebenfalls gut?“ Dabei zeigte sie ihre weiß leuchtenden, wohlgeformten Zähne. Das Biest lacht auch noch, dachte Doris Mohrmann. Bemüht freundlich, doch nicht ohne sichtbare Emotion, sagte sie: „Ein schönes Kleid, das du da trägst. Ist es nicht ein wenig zu prunkvoll für eine Selbstmörderin?“ „Ganz und gar nicht“, antwortete Ute Mischke lächelnd, „bedenke, dass die Selbstmörderin ihren heiß Geliebten erwartet.“ Bei dem Wort „Geliebten“ setzte bei Doris Mohrmann für einen Augenblick die Wahrnehmung aus. „Allerdings“, so ergänzte Ute Mischke wie nebenbei, „hat die Selbstmörderin fatalerweise geglaubt, auf ihren Schatz vergeblich zu warten.“ Auch bei der Betonung von „Schatz“ spürte Doris Mohrmanns eine Eintrübung ihres Bewusstseins. Doch riss sie sich zusammen und beharrte auf ihrem Standpunkt. „Ich bleibe dabei, so schön wie dein Kleid auch sein mag, ich finde es unpassend“, sagte sie barsch, dabei jeden