Außerhalb des Scheinwerferkegels glich der dunkle Eichentisch den Umrissen eines ver-schwommenen Felsens. Darauf, mit leicht gespreizten Beinen, stand Ute Mischke. Ihr Kopf steckte in einer Schlinge, die zu einem Strick gehörte, der von einem Deckenbalken herunter hing. Die Lebensmüde klagte nicht. Da näherte sich aus dem Hintergrund Karl-Heinz Mohrmann, ihr Bühnenpartner. Der Laienschauspieler machte zwei, drei Schritte,


Fortsetzung hier:


hechtete auf den Tisch, tauchte ein in das grelle Licht der Scheinwerfer und umklammerte die strammen Beine der zu allem Entschlossenen. Dabei folgte Mohrmann der Regieanweisung akribisch. Ganz wie es seinem bemühten Wesen entsprach, rief er so lebensecht wie möglich: „Ute, was tust du?“ Wie zufällig verlor sich der Kopf des Lebensretters dabei unter dem Faltenwurf ihres Kleides. „Halte ein, ich befreie dich!“, sollte er seiner Bühnenpartnerin jetzt zurufen. Doch nicht mehr als ein Haspeln und Murmeln wollte seinem Kiefer entspringen.


Eine geschlagene Minute lang kämpfte Karl-Heinz Mohrmann redlich um diesen Part. Bis ins Parkett hinein waren sein stoßend pfeifender Atem und so allerlei andere nicht zuzuordnende Laute zu hören. Die Mitglieder des Ensembles schüttelten missbilligend den Kopf über diesen Patzer, der ganz und gar nicht zur Zuverlässigkeit Mohrmanns passen wollte. Zumindest, so nörgelten die Anwesenden, hätte er dem Drehbuch folgen müssen: auf den Schreibtisch springen und das Taschenmesser zücken, um die Leidende abzuschneiden vom schicksalhaften Strang. Da griff der Regisseur ein. „Das muss geübt werden“, forderte er aus der ersten Reihe in einem zupackenden Tonfall. Karl-Heinz Mohrmann zog den Kopf heraus aus dem verstörenden Erlebnis hinter dem Faltenwurf, tauchte auf in die soziale Wirklichkeit des Laienspiels. Beflissen, wieder im Vollbesitz seines Sprachvermögens, versprach er eine außerplanmäßige Proben-Schicht. Ute Mischke, noch immer den wuchtigen Schreibtisch dominieren, lächelte auf den Regisseur hinab. „Wenn es denn sein muss …“, schnalzte sie und kehrte zurück in die Lebenswirklichkeit, im Schlepptau einen Karl-Heinz Mohrmann, der sein Haupt in Demut gesenkt hielt.


Währenddessen saß Doris Mohrmann, Karl-Heinz’ Lebenspartnerin aus dem wirklichen Leben, in der dritten Reihe des Parketts und verspürte kratzendes Unbehagen. Was um Himmels willen verbarg sich unter dem Kleid? Was mochte ihren Karl-Heinz darunter so aus der Fassung gebracht haben? Ausgerechnet ihn, die Zuverlässigkeit schlechthin, die er hier im Theater gewöhnlich nicht weniger verkörperte als zuhause. Ob beim Zubereiten des Frühstücks oder beim Reinemachen, beim Abwasch oder beim so geliebten  Puddingkochen, ja selbst bei der Gartenarbeit, stets hatte ihr Mann den rundum funktionierenden Tausendsassa gegeben, den softigen Beziehungsroboter mit glatt rasiertem Antlitz, durch und durch perfekt. Und dann passierte ihm dieses Missgeschick? Doris Mohrmann mochte es nicht glauben. Oder wurde der Hilfreiche allmählich alt? Er wurde doch wohl nicht vom Oberprokuristen Herrn Alzheimer heimgesucht?


Am liebsten hätte sie ihren Karl Heinz auf der Stelle ins Verhör genommen. Doch der Zeitpunkt war ungünstig, denn neben Doris Mohrmann in der dritten Reihe saß der stets fein gewandete Herman Liebich, den alle „Schwarzer Kater“ riefen, nicht weil er etwa schwarz wäre oder schnurren würde, sondern weil er stets ein Miniaturfläschchen des altbekannten Johannisbeerlikörs „Schwarzer Kater“ mit sich führte. Manchmal auch zwei oder drei Fläschchen. Dann pflegte er eines abzugeben, mit Vorliebe an Doris Mohrmann, die im Übrigen noch nie nein gesagt hatte. Stattdessen sagte sie lieber „prost“ - und manchmal sogar noch andere Worte, die aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Hermann Liebich fasste in die rechte Tasche seines Jacketts, zog zwei Fläschchen „Schwarzer Kater“ heraus und stieß mit Doris an: „Auf uns!“ „Ja, prost“, antwortete Doris Mohrmann ungewohnt wortkarg. Herman Liebichs Stimme füllte die Stille: „Auf dich und auf mich und auf uns beide!“ Letzteres sagte er mit einem Augenzwinkern.         


Da stieg der Regisseur auf die Bühne, beschrieb mit seinem Armen einen theatralischen Halbkreis und erklärte mit klarer Stimme, dass noch etwas Zeit sei bis zum Ende der Probe und dass er die Suizidszene noch einmal sehen wolle. Blitzschnell zog Herman Liebich abermals zwei „Schwarzer Kater“ hervor, diesmal aus der anderen Tasche seines karierten Jacketts. „Komm, wenn die Deppen noch einmal üben müssen, können wir ja rasch in die Umkleide ...“ „Ich weiß nicht recht“, antwortete Doris Mohrmann, „ich würde ja gern mit dir kommen, aber ich möchte lieber hier bleiben … Weißt du, der Karl-Heinz kommt mir heute so durcheinander vor. Das beunruhigt mich. Kannst du das verstehen?“ Es ist anzunehmen, dass Hermann Liebich ihre Bedenken nicht verstehen konnte oder wollte. Gleichwohl zeigte er gestisches Verständnis. Wenn auch mit dezentem Zähneknirschen. Um den „Schwarzer Kater“ nicht ganz erfolglos rausgerückt zu haben, ließ er in der Verschwiegenheit des Parketts seine Hände über Doris’ Schenkel gleiten.


Auf der Bühne hatte Ute Mischke die Schlinge zum zweiten Mal an diesem Abend um ihren Hals gelegt. Zwei Meter entfernt wartete der Regisseur auf Karl-Heinz Mohrmanns Einsatz. Der nahm gehörig Fahrt auf und sprang mit einem Hechtsprung auf den Tisch. Der Regisseur ballte die Fäuste. „Bravo!“, rief er. Und als Mohrmann die Beine der Lebensmüden umklammerte und „Ute, was tust du?“ rief, da lobte der Regisseur: „Jawohl! Es geht doch. Weiter so!“ Schon verschluckte das üppige Kleid das Haupt des Lebensretters. Die Anspannung ließ die Anwesenden das Atmen vergessen. Wo blieb das geforderte „Halte ein, ich befreie dich!“? Groß war die Enttäuschung! Denn nichts weiter als ein speicheliges Murmeln, atemloses Stöhnen und ein geradezu ersterbendes Seufzen zerriss die aufgestaute Stille im Theater. Es war der Regisseur, der zur Bühne hinauf stürmte und Karl-Heinz herauszog aus der stofflichen Einhüllung ins Licht der Scheinwerfer.    


Als der Verstörte sich aufrichtete, dabei für einen Moment die volle Leuchtkraft der Scheinwerfer sein Gesicht traf, kam Bewegung in die dritte Reihe. Doris Mohrmann sprang auf, schob die Brust wie auch den Kopf so weit wie möglich über die vorderen Stuhlreihen. Der Beutestarre eines Raubtieres nicht unähnlich, so schien sie Kontakt aufzunehmen mit ihrem Gatten, in dessen Gesicht sie Ungeheuerliches las. Aufgereizt riss sie dabei die fummelige, schwitzige Hand ihres Sitznachbarn und Likör-Spenders zwischen ihren Oberschenkeln hervor. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Dieses blöde, bei aller Verwirrung unübersehbare Grinsen im Gesicht ihres langjährigen Ehepartners da oben auf der Bühne, diese lüsterne Verklemmtheit …  Teufel, so hatte sie ihren Karl-Heinz schon einmal erlebt, damals, über viele Monate hin, nachdem sie, Doris, ihn auf dem Hamburger Dom zum ersten Mal geküsst hatte.


Während auf der Bühne die Scheinwerfer erloschen und der Regisseur einen ratlosen Eindruck machte, heftete Doris ihren Blick auf Ute Mischke und das üppige Kleid. Wie im Zeitraffer reifte der Apfel der Erkenntnis. Oder sollte sie ihn besser als Apfel der Sünde begreifen? Eines jedenfalls stand fest: Karl-Heinz’ Versagen hatte seine Ursache hinter diesem Faltenwurf. Ein betäubendes Parfum? Pulsierende Krampfadern? Raffinierte Strapse? Oder: War da überhaupt etwas drunter?


Doris Mohrmann hatte vor Jahren den Beruf einer Chemisch-technischen Assistentin erlernt. Sie wusste genau um die Funktion von Weichmachern. Dass mit der Veränderung eines materiellen Stoffs stets ein Prozess des Aufweichens, der Auflösung molekularer Strukturen einhergeht. Ein Gesetz, von dem sie zu wissen glaubte, dass es auch auf Menschen anwendbar war. Nachhaltige, schmerzhafte Erinnerungen, überbordende Emotionen, Liebe, Herzschmerz, Erschrecken, Geilheit und Angst zuvorderst, sogar eine gelungene freudige Überraschung, all dies ließ sie als glaubwürdige Katalysatoren menschlicher Veränderung gelten.


Misstrauisch, aber mit der gebotenen Nüchternheit sondierte Doris Mohrmann die Gegebenheiten: Das, was sie soeben hatte miterleben müssen, hatte ganz und gar nichts mehr mit ihrem Mann gemein, dem liebenswerten, durch und durch funktional ausgerichteten Karl-Heinz. Die Konsequenz wagte sie kaum in Worte zu fassen: Ja, hier muss ein Weichmacher im Spiel sein. O je, das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass diese treue Seele eines Tages den Abwasch verweigern oder - schlimmer noch! - unangenehme Fragen stellen würde.


Den enttäuschten Schwarzer Kater-Spender im Parkett zurücklassend, eilte sie den Umkleideräumen entgegen. Wuchtig stieß sie die Tür auf. Was würde sie dahinter erwarten? Ihr Kar-Heinz in den Armen seiner Bühnenpartnerin Doris Mischke? Doch diese saß allein in einem Schminksessel und nippte an einem Gläschen Sekt. Um ihren Hals hing noch schlaff die Todes-Schlinge; der dazugehörige Strang schlängelte sich über die Knie hinunter aufs Linoleum. Doris Mohrmanns Interesse fasste nach dem Kleid, das Ute Mischkes Unterkörper mitsamt dem Sessel zu bebrüten schien. Ihr Puls geriet ins Stolpern. Sollte etwa Karl-Heinz unter dem Saum stecken? Ihr Karl-Heinz? Blitzschnell machte ihr Vorstellungsvermögen die verdeckten Maße sichtbar. Sie atmete auf. Ihre schlimme Befürchtung klang ab. So schmächtig, um unter die kurzen Stuhlbeine zu passen, war ihr Mann nun wirklich nicht gebaut. Innerlich beruhigt, gleichmütig im Ton sagte sie: „Hallo, wie geht’s?“ „Wenn man davon absieht, dass dein Mann die gemeinsame Szene auf dem Tisch hat misslingen lassen, geht’s mir gut“, antwortete Ute Mischke. Ihre Augen ruhten für einen Augenblick auf dem halb gefüllten Sektglas. Dann ergänzte sie: „Jetzt geht’s mir wieder sehr gut sogar. Doch was ist mit dir“, drehte sie das Gespräch gegen Doris Mohrmann, „geht’s dir ebenfalls gut?“ Dabei zeigte sie ihre weiß leuchtenden, wohlgeformten Zähne. Das Biest lacht auch noch, dachte Doris Mohrmann. Bemüht freundlich, doch nicht ohne sichtbare Emotion, sagte sie: „Ein schönes Kleid, das du da trägst. Ist es nicht ein wenig zu prunkvoll für eine Selbstmörderin?“ „Ganz und gar nicht“, antwortete Ute Mischke lächelnd, „bedenke, dass die Selbstmörderin ihren heiß Geliebten erwartet.“ Bei dem Wort „Geliebten“ setzte bei Doris Mohrmann für einen Augenblick die Wahrnehmung aus. „Allerdings“, so ergänzte Ute Mischke wie nebenbei, „hat die Selbstmörderin fatalerweise geglaubt, auf ihren Schatz vergeblich zu warten.“ Auch bei der Betonung von „Schatz“ spürte Doris Mohrmanns eine Eintrübung ihres Bewusstseins. Doch riss sie sich zusammen und beharrte auf ihrem Standpunkt. „Ich bleibe dabei, so schön wie dein Kleid auch sein mag, ich finde es unpassend“, sagte sie barsch, dabei jeden

Quadratzentimeter des Faltenwurfs mit den Augen vermessend. Wie gern hätte sie den Saum angehoben, einen Blick unter den schweren Stoff geworfen, doch wollte sich kein Vorwand finden lassen. So beschloss sie, die nächste Probe abzuwarten oder den „Schwarzen Kater“ zu schicken, die geheime Wirkung des Kleides im wahrsten Sinne des Wortes zu lüften. 


Auf dem Heimweg in der U-Bahn sprachen Doris und Karl-Heinz Mohrmann über dies und das. Irgendwie schwebte plötzlich der Name Ute Mischke in der trüblichternen Luft des veralteten Waggons. „Was die Mischke aber auch für ein Kleid angehabt hat“, sagte Doris mit echauffiertem Unterton. Karl-Heinz’ Gesichtszüge gerieten zur Maske. Ein Gesichtstod, der Doris nicht verborgen blieb. „Wie fandest du ihr Kleid?“, fragte sie. Die Frage ließ ihn erstarren. Das plötzliche temporäre Ende aller seiner Regungen wurde von Doris aufmerksam beobachtet. Ich hatte Recht, da ist etwas, das da nicht hingehört, schoss es ihr durch den Kopf. Endlich öffnete Karl-Heinz seine Lippen. „Ein schönes Kleid. Aus einem ziemlich dicken Stoff“, brachte er monoton hervor. „Und?“, lockte Doris, „gibt es darunter vielleicht etwas anzuschauen?“ Als Karl Heinz nicht sogleich antwortete, fragte sie gereizt: „Oder hat es unter dem Kleid etwa gemüffelt, ich meine, wenn das Kleid aus einem so dicken Stoff besteht, da wäre es doch denkbar, dass die Mischke ins Schwitzen gekommen ist zwischen ihren hässlichen Beinen. Karl-Heinz Mohrmann mied den Augenkontakt mit seiner Frau, als er abwiegelte: „Nein, nein, es ist nichts von alledem. Ich habe einfach einen Blackout gehabt, einen Aussetzer, wenn du verstehst, was ich meine.“


Doris Mohrmann verstand ihren Mann zum ersten Mal nicht in ihrer zwanzigjährigen Ehe. Karl-Heinz hatte noch nie etwas vergessen, keinen Geburtstag, keinen Hochzeitstag und seine Sprechtexte für das Laienschauspiel sowieso nicht. Andererseits konnte sie sich nicht erinnern, dass der Brave sie jemals belogen hätte. Sie beschloss, die ganze Angelegenheit für diesen Augenblick auf sich beruhen zu lassen und das Ganze noch einmal gründlich zu überdenken. Ein Vorsatz, der allerdings nicht allzu lange Bestand haben sollte. 


So wie an jedem Abend in dieser funktionierenden Ehe servierte Karl-Heinz den Gute-Nacht-Martini. Während Doris den unverzichtbaren Absacker in kleinen, genüsslichen Schlucken verinnerlichte, veräußerlichte sie ihre Vorstellung vom Verlauf des nächsten Tages. Dass sie am Nachmittag zum Friseur müsse, anschließend auf den Wochenmarkt und danach zur Tupper-Party, eine neue Frühstücksdose für ihren Karl-Heinz zu erstehen. Mit der Aufforderung „Warte also morgen Abend nicht mit dem Martini auf mich, es kann sehr spät werden“, beendete sie ihre Ansprache. Diese nahm Karl-Heinz auf wie seit vielen Jahren: gleichmütig, einverstanden, Martini nachschenkend. Doch anstatt die Zähne zu putzen und sich ins Bett zu trollen, öffnete er zu Doris’ Verblüffung seinen Mund. Wie selbstverständlich sagte er: „Wenn du zur Tupperparty gehst, könnte ich ja zu Ute Mischke nach Norderstedt fahren, um mit ihr die Selbstmordszene zu üben.“


Mit einem derartig frechen, noch dazu eigenständigen Anliegen hatte Doris Mohrmann ganz und gar nicht gerechnet. „Ja - wenn das so ist, dann, dann, ja dann - mach mal!“, antwortete sie geradezu übertölpelt. Darauf ließ sich  Karl-Heinz gleich einem satt-zufriedenen, müden Kind in die daunige Gemütlichkeit des Ehebetts sinken.


Ganz anders fühlte die ihm angetraute Doris.  Schwer lag sie in den Federn, hielt die geweiteten Augen gegen die Zimmerdecke gerichtet. Sie fühlte alles andere als Behagen. Doch was sollte sie machen? Die Tupper-Party a deux absagen, also auf ihr vierzehntägig stattfindendes  Rendezvous mit dem Schwarzen Kater verzichten?“ Niemals! Dennoch musste ihr etwas einfallen, und zwar rasch. Denn an Karl-Heinz’ privatem Übungsabend mit der Mischke war etwas oberfaul, gar keine Frage. Hatte das Luder, so überlegte Doris, gar ein Auge auf ihren Karl-Heinz geworfen? Die Selbstmörderin mit dem dicken, weiten Kleid ist verdammt frau-schlau, erkannte sie und mutmaßte, dass Ute Mischke es sich wohl bequem machen wollte für den Rest ihrer Tage, sich bedienen und versorgen lassen von einem fremden Mann, der ein gut verdienender Beamter war und – schlimmer noch - einer anderen, nämlich ihr, Doris Mohrmann, gehörte. Als nächstes würde die Mischke ihre feuchten Finger womöglich  nach Bommerlunder-Schwarzer Kater ausstrecken. Das kam ja überhaupt nicht in Frage.


So schlau wie die Mischke war Doris Mohrmann schon lange. Sie streifte ihr Nachthemd ab, machte sich am Kleiderschrank zu schaffen und verschwand für kurze Zeit in der Wohnstube. Zurück im Schlafzimmer schaltete sie sämtliche Lampen an und rief: „He, Karl-Heinz, schlaf nicht ein!“ Der fuhr hoch. „Was gibt’s?“, fragte er und rieb sich mit den Fingern die Augen klar: Was ihm jetzt vor die verschlafenen Pupillen kam, war zunächst einmal ein wallendes rotes Kleid, das seine Frau umhüllte. Um ihren Hals wand sich das Verlängerungskabel der Wohnzimmerleuchte. „Komm, lass uns üben“, forderte sie, und: „Die Suizidszene kannst du auch mit mir einstudieren, dafür brauchst du nicht nach Norderstedt zu der blöden Mischke fahren.“ Als Karl-Heinz nicht gleich in Begeisterung ausbrach, schlug seine Frau vor, dass er den morgigen Abend sinnvoller nutzen und einen schönen Pudding kochen könnte.“ „A-aber …“ „Kein Aber, geh zur Tür und nimm Aufstellung!“ Zeitgleich postierte Doris Mohrmann sich auf dem Ehebett.


Karl-Heinz erwies sich als das, was er immer gewesen war in seinem gewiss nicht unzufriedenen Leben: er blieb gefällig. Schon nahm er Anlauf und hechtete aufs Ehebett. Noch im Flug rief er: „Ute, was tust du?“ „Verdammt!“, schimpfte Doris, „der Satz ist doch erst dran, wenn du meine Beine umklammerst.“ Wütend trat sie ihrem Karl-Heinz in die Rippen. Der fragte verwundert: „Ich soll deine Beine umklammern? Ja darf ich das denn?“ Doris antwortete: „Wenn ich es sage, dann wird es wohl so sein.“ Abermals nahm Karl-Heinz Aufstellung. Auf einen Fingerschnipser hin setzte er sich in Bewegung. Sogleich fassten seine Hände nach den Beinen seiner Frau, ganz vorsichtig, den Druck wie fragend, nur allmählich verstärkend. Dem Drehbuch folgend verdrehte er den Kopf, geriet unter das Kleid. Klar drangen seine Worte durch das feine Gewebe: „Halte ein, ich befreie dich!“ Wühlig, ungeschickt entwand er sich der Umhüllung, sprang auf, griff nach dem Stecker am Ende des Kabels, das um ihren Hals gedreht war, riss und zog so ungestüm daran, dass Doris Mohrmann zum ersten Mal im Leben richtig angst und bange wurde. Schließlich ließ Karl-Heinz ab von ihr, flitzte in die Küche. Doch bevor der Eifrige zurückgekehrt war,  die Selbstmörderin abzuschneiden vom Strang, entfernte Doris selbst die Verlängerung. Nicht nur um der eigenen Sicherheit willen, sondern auch in Sorge um das nützliche Elektrokabel. 


Mit demonstrativem Applaus und der Aufforderung, einen Belohnungsmartini einzuschenken, kam sie ihrem Karl-Heinz zwei Schritte entgegen. Der machte noch im Küchendurchgang kehrt und tauschte das Messer gegen zwei gefüllte Martinigläser. „Du warst weltklasse“, lobte sie den Gehorsamen, „jedes Wort an der richtigen Stelle, wirklich, da gibt’s nichts zu meckern.“ Doris Mohrmann kräuselte die Stirn. „Allerdings frage ich mich“, fuhr sie fort, „warum es dir auf der Bühne unter dem Mischke-Kleid jedes Mal die Sprache verschlägt?“ Mit einem warmen, gewogenen Lächeln blickte sie seiner Antwort entgegen.


Dass Karl-Heinz sich Zeit ließ, war nichts Neues für Doris. Neu war, dass er gar nichts sagte. Als er endlich doch etwas sagte, stotterte er wie ein Auto mit rasch aufeinander folgenden Fehlzündungen. Er bekomme keine Luft und sein Gehirn setze aus zwischen den verwunschenen Fasern des Bühnenkleids, presste er hervor. Er lügt, dachte Doris mit dem Gespür einer erfolgreichen Ehefrau. Instinktiv erfasste sie jedoch auch die Chance, die in seinen Worten steckte. „Sollte dir tatsächlich die Luft wegbleiben“, beschied sie, „dann wäre es unverantwortlich, wenn du deinen Hals auch nur noch eine halbe Sekunde unter den Kleidersaum der Mischke steckst.“ Mit erhobenem Zeigefinger verlangte Doris, dass Karl-Heinz‘ private Übungsstunde mit der Mischke aus gesundheitlichen Gründen ausfallen müsse. Stattdessen solle er den Hausarzt aufsuchen, Hals und Lunge untersuchen lassen und bloß nicht ohne ein Attest heimkommen. „Aber ...?!“, stieß Karl-Heinz verzweifelt hervor. „Nichts Aber!“, wiegelte Doris ab.


Allein aus blanker Fürsorge, wie sie versicherte, griff Doris Mohrmann am nächsten Vormittag zum Telefon und sagte persönlich Karl-Heinz’ Übungsstunde bei Ute Mischke ab. Außerdem begleitete die Treusorgende ihren Mann am Nachmittag zum Arzt. Nicht ohne zu vergessen, ihn mehr als eindringlich an das Attest zu erinnern, das er verlangen solle. Dann erst brach sie zur Tupper-Party a deux ins Reihenhaus des Schwarzen Katers auf. Von dort telefonierte sie mit dem Regisseur. Dass es Karl-Heinz sehr schlecht gehe, berichtete sie, und dass Ute Mischke die Rolle als Selbstmörderin fürderhin ohne Kleid, am besten in einer Jeans spielen müsste, wenn auf Karl-Heinz Mohrmanns weiteres Mitwirken Wert gelegt würde. Ein diesbezügliches Attest, so Doris Mohrmann, sei so gut wie unterwegs.


Der Regisseur willigte in Anbetracht der in Sichtweite befindlichen Uraufführung ein. Doris Mohrmann fiel ein Stein vom Herzen. Die Leichtigkeit, die sie umfing, sollte die Tupper-Party mit Schwarzer Kater Hermann Liebich zu einem bislang nie erlebten Rausch werden lassen.


Ute Mischke freilich war auf der nächsten Theaterprobe alles andere als erfreut. Ihre Enttäuschung darüber, in einer Jeans auftreten zu müssen, sollte bis hinein in die Wochen der regulären Theateraufführungen anhalten. Böse Zungen behaupteten, dass gerade diese fortdauernde Enttäuschung der Grund für den spontanen, heftigen, mitunter sogar tosenden Applaus sei, der ihre gefühligen, eindrucksvollen Auftritte als Selbstmörderin begleitete. Und tatsächlich: Hätte der geneigte Zuschauer vergessen, einer Fiktion beizuwohnen, er hätte annehmen müssen, die Selbstmörderin wollte sich tatsächlich selbst in den Tod befördern. Karl Heinz Mohrmann freilich fand zu alten Tugenden zurück, zur geschätzten mohrmannschen Präzision. Zügig, auf den Punkt genau, geradezu perfekt artikuliert, folgte sein gesprochener Text den Weisungen des Drehbuchs. Und ruck, zuck durchtrennte er den um Ute Mischkes Hals gestrafften Strick, schleuderte ihn mit dramatischem Gestus auf die Bühnenbretter. „Jawohl, wunderbar, wie im richtigen Leben!“, lobte der Regisseur.  


c/aboreas, 9/2009      

Kurzgeschichte   -   Das geheimnisvolle Kleid

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